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Disziplin der Freiheit - Teil 1

Disziplin und Freiheit in der Montessori-Pädagogik

Montessori bezeichnet eine Schule für das Kind als einen Ort und einen Raum, an dem das Kind in Freiheit leben kann, wo die besten Entwicklungsbedingungen für den gesamten kindlichen Organismus geschaffen werden. Kindergärten und Schulen müssen Orte sein, wo sich Personalität und Sozialität in Zusammenarbeit und im Zusammenleben mit anderen Kindern und Erwachsenen positiv entwickeln kann.

Entscheidend für die Realisierung der 'Disziplin der Freiheit' als erwerbbare Kompetenz ist die Unterrichtsform des 'Freien Lernens', in der das Prinzip der 'Freien Wahl' vorherrscht.

 

Disziplin der Freiheit und das Prinzip der Freien Wahl

Der deutsche Schriftsteller Thomas Mann hat gesagt, in Freiheit zu leben bedeutet gleichzeitig die Notwendigkeit einer freiwilligen Übernahme von Verantwortung und deshalb wird Verantwortlichkeit oft von den Menschen gemieden. Da hat er wohl recht, der gute Mann - tatsächlich erfordert Freiheit ein hohes Maß an Disziplin.

Auch Maria Montessori spricht im Zusammenhang mit Freiheit immer auch von Verantwortung und Disziplin. Wobei sie sich klar von einer 'negativen Disziplin', die unterwerfende, bezwingende Maßnahmen beinhaltet, abwendet - denn das entspräche eher dem Begriff des Macht(miss)gebrauchs.

Hingegen ist Montessoris Verständnis einer 'positiven Disziplin' durch und durch von dem geprägt, was sie selbst als "Meister seiner selbst sein" bezeichnet:

Ein Meister seiner selbst hat bestimmte Fähigkeiten erworben, um frei zu sein: Ein freier Mensch ist befähigt zur Selbstwahrnehmung der eigenen Gefühle und Bedürfnisse, er besitzt ein angemessenes Maß an Selbstdisziplin und übernimmt die Eigenverantwortung für eigene Handlungen und die daraus entstehenden Konsequenzen. Ein 'Meister seiner selbst' hat zudem gelernt, die Bedürfnisse der anderen zu sehen und anzuerkennen, Mitmenschen zu respektieren und zu achten - ohne sich ihnen unterzuordnen oder überzuordnen.

Montessoris Freiheitsbegriff zeigt sich dreidimensional wirksam, denn er trägt neben dem freiwilligen Disziplingedanken und dem Eigenverantwortungsaspekt auch den Gemeinschaftsgedanken in sich. In diesem Sinne die Disziplin der Freiheit als Lerninhalt für Kinder zu ermöglichen, ist das Prinzip der 'Freien Wahl' oder die 'Freiarbeit' sehr bedeutsam.

Foto: BEL

Hilf mir, es selbst zu tun

Das 'Prinzip der Freien Wahl' verlangt die Freigabe des Interesses des Kindes, sich selbst für eine Tätigkeit, ein Lernthema bzw. Lernobjekt zu entscheiden. Diese Unterrichtsform entspricht dem natürlichen Lernverhalten von Kindern, denn "das Leben basiert auf Wahl. So lernen sie, sich selbst zu entscheiden" (Montessori 2007, S.118). Wenn Montessori von freien Aktivitäten bzw. freier Arbeit spricht, meint sie, dass das eigenaktive Handeln ein wesentlicher Aspekt im menschlichen Lern- und Entwicklungsprozess ist. Die Lehrerin, der Lehrer lässt die Kinder beim Lernen aktiv tätig werden - nach dem Prinzip "Hilf mir, mir selbst zu helfen" (ebd. S. 127).

Zentrale Voraussetzung hierzu ist ein Höchstmaß an freiheitsgebende Strukturen innerhalb der vorbereiteten Lernwelt. Die so ermöglichte individuelle Freiheit prägt das selbsttätige Tun und Handeln der Kinder, mit der das einzelne Kind Schritt für Schritt verantwortlich umgehen lernt.

Das Menschenbild, wie Montessori es versteht, besagt, dass dem menschlichen Geist durch selbstbestimmte Aktivität und Freiheit (der Freien Wahl) entsprochen wird. Der Mensch ist für die Freiheit bestimmt und charakterisiert sich darin, dass er über sich selbst verfügen kann, sich selbst realisiert, sich selbst kontrolliert und Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann (vgl. Montessori 2007, S. 53f; 2005a, S. 6f).

Das Fundament, das ein freies Lernen erst ermöglicht, beinhaltet essenzielle drei Aspekte - erstens die vorbereitete Lernwelt, zweitens den vorbereiteten Erwachsenen, befähigt zum kompetenten pädagogischen Handeln und drittens das weltberühmte Montessori-Material als wichtiger Kristallisierungspunkt. Das Vermögen des Kindes zur spontanen Aktivität ermöglicht es, "aus seinem inneren Selbst heraus" (Montessori 2005b, S.16) tätig zu werden, "von sich aus zu handeln, zu wollen und zu denken" (Montessori 2005a, S. 254). Das Freie Lernen fordert und fördert die freiwillige Verantwortungsübernahme, die freiwillige Kooperationsbereitschaft und die freiwillige Disziplin der Kinder. Auf diese Weise werden ein vielfältiger Erfahrungs- und Wissenserwerb (kognitiv, sozial und emotional) auf eine respektvolle und die kindliche Würde bewahrende Art und Weise ermöglicht und gefördert (vgl. auch Harrer 2014, S. 124ff).

Foto: BEL

Entscheidende Faktoren zur Umsetzung des Prinzips der freien Wahl sind:

(1) Freigabe der Zeit: Das Kind arbeitet in seinem individuellen Lerntempo - es darf seine Handlungen und Übungen so oft wiederholen, wie es nötig ist, und ist frei in seiner individuellen Lern-, Pausen-, Spiel-, und Freiarbeitszeit-Gestaltung.

(2) Freigabe der sozialen Form des Lernens: Das Kind entscheidet selbst, ob es alleine, mit einem Lernpartner oder in einer Gruppe arbeiten möchte.

(3) Freigabe des Arbeitsplatzes: Das Kind entscheidet wo es arbeitet: es kann im Gruppenraum, auf dem Flur, in der Schulbibliothek, am Tisch oder am Boden (kleiner Teppich) arbeiten. Es kann sich jederzeit leise im Raum bewegen und andere Lernräume aufsuchen (Prinzip der offenen Tür).

(4) Freigabe der Wahl der Tätigkeit bzw. des Lerngegenstandes: Das Kind wählt aus einem vielfältigen und jederzeit zugänglichen Angebot eine Aufgabe, eine Problemstellung oder ein Material aus, die seinen individuellen Interessen, Lernvoraussetzungen und Arbeitsvorhaben entspricht. Auf diese Weise legt es sich auf eine Tätigkeit, ein Thema oder einem Lernbereich fest, bestimmt den geeigneten Schwierigkeitsgrad seines Tuns und setzt sein Ziel fest. Das Kind bestimmt selbst, ob es sich etwas Neuem widmen bzw. Neues erarbeiten oder Bekanntes wiederholen möchte.

Entscheidende Basis für die Realisierung der Freiarbeit sind:

(1) eine reichhaltige, das Kind anregende Lernumgebung

(2) Erwachsene in seiner Funktion als Lernbegleiter und Lernberater

(3) ein Reichtum an Freiarbeits-Materialien und Lernangeboten in

verschiedensten Kontexten aus Kultur, Kunst, Natur und Welt.

Weit ihrer Zeit voraus plädiert Montessori schon vor ungefähr hundert Jahren für ein freies Lernen. Neben dem Prinzip der 'Freien Wahl' gibt es dafür weitere sehr entscheidende Gestaltungs- bzw. Organisationskonsequenzen als unverzichtbare Rahmenbedingungen, die zeitgemäßer nicht sein könnten: eine kindgerechte und soziale Zeitstruktur, Auflösung der künstlichen Altersisolierung, Frontalunterrichtsauflösung, Individualisierung und Differenzierung als Basis für soziale Gemeinschaftsbildung, Aufhebung der Außenbewertung durch die Lehrerin, den Lehrer.

 

Mehr zu diesen Thema gibt es im nächsten Blog von Margareta Harrer.

Literatur:

  • Harrer, M. (2014): Konstruktivismus als Wirkmechanismus der Montessori-Pädagogik. Subjektive Theorien von Lehrerinnen zu fördernden und hemmenden Einflüssen zur Umsetzung der Montessori-Pädagogik im Praxisfeld Volksschule. Salzburg: Dissertation an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Paris Lodron Universität.
  • Montessori, M. (2005a): Das kreative Kind (16. Aufl.). P. Oswald & G. Schulz-Benesch (Hrsg.). Freiburg: Herder.
  • Montessori, M. (2005b): Kosmische Erziehung (7. Aufl.). P. Oswald & G. Schulz-Benesch (Hrsg.). Freiburg: Herder.
  • Montessori, Maria (2007): Die Macht der Schwachen (3. Aufl.). P. Oswald & G. Schuz-Benesch (Hrsg.). Freiburg: Herder.

 

Autorin:

Dr. Margareta Harrer ist Expertin und gefragte Referentin für Montessori-Pädagogik.

Leiterin der Bildungswerkstätte Eigenaktives Lernen (BEL) in Österreich │ Ausbilderin der Lehrgänge zur Montessori-Pädagogik mit Schwerpunkt auf zeitgemäße Umsetzung in der Praxis │ Doktorat in den Erziehungswissenschaften an der Universität Salzburg │ Studium der Soziologie an der Universität Linz │ Buchautorin │ Begleitendes Coaching für Montessori-Pädagogik in Kindergarten und Schule

 

Wie kann aus diesem Artikel zitiert werden?

Bitte geben sie folgende Quelle an:

Margareta, Harrer (2017): Disziplin der Freiheit. Teil 1.

Verfügbar unter: http://www.bel-montessori.at/blog

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