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Montessori-Pädagogik als Form des "stillen Widerstands"? Im Interview mit Dr. Margareta Harrer werden dazu von Maria Ramšak fünf Fragen gestellt.

Kann die Montessori-Pädagogik als eine Form des "stillen Widerstands" im Hinblick auf das tradierte Bildungssystem gesehen werden? Kann der Montessori-Ansatz als nennenswerter Teil der Menschenrechtsbewegung bezeichnet werden?

Vorweg dazu eine Zitation aus dem Interview:

"Es ist heute offensichtlich, dass der Mensch in verzweifeltem Ausmaß der Intelligenz bedarf, um seine Kraft zur konstruktiven Veränderung der Dinge einzusetzen. Es ist nur zu hoffen, wenn der Mensch seine selbstverfertigte Welt in einer Fassung erhält, die menschliches Leben ermöglicht, dass sich in Richtung auf eine für alle würdige Existenzform entwickelt. Eben das lässt sich nur mit Hilfe von Erziehung verwirklichen."

 

 

 

1. Inwiefern verstehen Sie die Montessori-Pädagogik als Form des "stillen Widerstands" gegenüber klassischen Bildungssystemen?

Grundsätzlich sind es zwei Aspekte aus der Montessori-Pädagogik, die im "leisen Wiederstand" mit einer konservativ-traditionellen Schulbildungseinstellung stehen: Erstens eine pädagogisch-wertschätzende Grundhaltung, die dem autonomen und selbstregulierten Lernen Vorrang gibt. Pädagogisch Tätige sind sich bewusst, dass ihr eigenes Handeln auf die Selbstbildungsprozesse des Kindes lenkende und freigebende Wirkung hat. Dabei ist die ausgewogene Balance gekoppelt mit feinfühligem pädagogischen Takt das A und O. Eine wertschätzende Haltung berücksichtigt die ganze Persönlichkeit des Kindes, stellt Raum, Zeit und Mittel zur Verfügung. Ein breites Repertoire von Techniken zur Lernbegleitung und Lernberatung bis hin zur absoluten Freigabe des Lernens ist einer der vielfältigen Ansprüche an begleitende Erwachsenen.

Zweitens ist die kindgerechte Organisation und Gestaltung des Raumes, der Zeit und Strukturen in der Lernumgebung vorausgesetzt - beispielsweise die Freigabe der Wahl der Arbeit und der Bewegung, Auflösung der 50-Minutenvertaktung des Lernens - statt dessen klare Regeln und Strukturen für freies Lernen, Aufhebung der Altersisolierung - statt dessen Altersdurchmischung, Auflösung der Lehrer:innen-Zentriertheit - statt dessen Kind-zentriertes Lernen, Aufhebung der Außenbewertung - statt dessen Material-immanente Fehlerkontrollen und konstruktive Feedbackkultur.

Soweit einige Beispiele für das Lernen in der Schule, das letztendlich einen wesentlichen Anteil der Lebensgestaltung und Persönlichkeitsbildung der Heranwachsenden beinhaltet, mit der Idee, dass diese jungen Menschen die Zukunftsgestalter der nächsten Generation sind. Ja, das stellt wie zu Montessori Zeiten bis heute konservierte Schultradition in Frage.

2. Welche menschenrechtlichen Prinzipien sehen Sie in der Montessori-Pädagogik konkret verwirklicht?

Aus Sicht der Montessori-Pädagogik ist jedes Kind ein wertvolles Individuum und hat das Recht auf qualitativ hochwertige Bildung - unabhängig von religiösen, ethischen oder sozialen Besonderheiten oder ob ein Kind hochbegabt oder gehandicapt ist. Der achtsame und respektvolle Umgang zielt auf ein menschenwürdiges Miteinander ab und stellt in der Schule das Metafundament, auf das die pädagogischen Säulen der Montessori-Pädagogik gestellt werden.

Gerade in der heutigen (teilweise krisenhaften) Bildungssituation eine aktuelle Fragestellung, die auch dringend politischen Handlungsbedarf anspricht. Der Montessori-Ansatz liefert dazu reichlich praxisrelevante Lösungen und Ideen.

3. Das klassische Bildungssystem wird oft als selektiv und normierend kritisiert. Wie fördert die Montessori-Pädagogik stattdessen Vielfalt, Inklusion und soziale Gerechtigkeit?

Der Montessori-Ansatz beruht auf einem Menschbild, das dem Subjekt, also auch dem kindlichen Menschen, die Fähigkeit zum Konstrukteur seiner selbst zuschreibt. Der menschliche Geist bestimmt sich durch Eigenaktivität und dem Vermögen zu lernen, mit Freiheit verantwortungsvoll und moralisch konstruktiv umzugehen. Um Selektion und Normierung oder andere menschenunwürdige Strukturen zu bannen, werden die bei Frage 1 angeführten Aspekte zur pädagogischen Haltung und zur Organisation- bzw. Gestaltungsprinzipien für das Lernen in der Schule als sehr bedeutsam eingestuft, um dem Kind als gleichwürdigen Menschen begegnen zu können - eben mit der Idee, das Kind ist mit dem Vermögen zur Selbstbestimmung, mit der Schlüsselqualifikation im Umgang mit (den Regeln) der Freiheit und der Fähigkeit zur Eigenverantwortlichkeit des eigenen Handeln ausgestattet. Auch wird dem heranwachsenden jungen Menschen die Fähigkeit zur Reflexion sowie die Sensibilität für positiv moralische, soziale und ethische Werte und Einsichten zugetraut, die nicht nur dem eigenen, sondern auch dem Gemeinwohl dienen. Es gilt das Prinzip der Individualisierung als Voraussetzung zur Gemeinschaftsbildung. Das soziale und emotionale Lernen ist gleichwertig mit kognitiven Lernen. Diversität hat dabei einen hohen Stellenwert, denn sie ist Basis für die Zusammenarbeit und ein friedliches Auskommen von Menschen mit/aus unterschiedlichsten Hintergründen und Kulturen.

4. Inwiefern kann die Montessori-Bewegung - historisch und heute - als Teil einer Menschenrechtsbewegung verstanden werden?

Dazu ein elementares Zitat aus der Montessori-Literatur: "Es ist heute offensichtlich, dass der Mensch in verzweifeltem Ausmaß der Intelligenz bedarf, um seine Kraft zur konstruktiven Veränderung der Dinge einzusetzen. Es ist nur zu hoffen, wenn der Mensch seine selbstverfertigte Welt in einer Fassung erhält, die menschliches Leben ermöglicht, dass sich in Richtung auf eine für alle würdige Existenzform entwickelt. Eben das lässt sich nur mit Hilfe von Erziehung verwirklichen." Aus: M. Montessori (1977): Erziehung zum Menschen, S. 141.

Montessori, M. (1977): Erziehung zum Menschen. Montessori-Pädagogik heute. München: Geist und Psyche Fischer.

5. Wie bewerten Sie die Montessori-Pädagogik aus einer kritischen menschenrechtlichen Perspektive? Wo sehen Sie Potenziale, aber auch mögliche Grenzen dieses Ansatzes im Hinblick auf gesellschaftlichen Wandel?

Aus der professionellen (wissenschaftlich-theoretischen Perspektive) ist Montessori-Pädagogik kein geschlossenes System, sondern ein offenes System, das sich anderen Ideen und Ansätzen nicht verschließt. Genauso wie die 'Montessori-Idee' viele aktuelle pädagogische Konzepte stark beeinflusst hat. Montessori begründete ein unglaublich komplexes, differenziertes und in vielen Punkten ein bis heute hoch aktuelles pädagogisches Konzept. Nichts desto trotz ist die Frage berechtigt, ob das Konzept von Montessori einem Verständnis von kindlicher Entwicklung und Bildung des 21. Jahrhunderts in allen Facetten entspricht.

Gelebte Kindheit und Jugend war zu Lebzeiten Montessoris aus sozial-kultureller Sicht eine andere als heute. Auch wenn die elementaren Bildungsprinzipien der Montessori-Konzeption eine, wie es scheint, zeitlose und aktuelle Bedeutung für heutige Erziehungs- und Bildungsfragen aufweist, besteht die Notwendigkeit einer Erweiterung bzw. Meta-Konzeption der Montessori-Theorie, die allumfassend im heutigen Verständnis von Kind und Jugend auch zeit-aktuelle Aspekte einer wissenschaftlich begründeten Bildung in Familie und Institutionen (Kindergarten/Schule) aufnimmt sowie Herausforderungen wie z.B. Überkonsum an Materiellem und Informationen, Tittytainment, Digitalisierung der Lebenswelt, Vielfalt der Kulturen, Polarisierung in vielen Lebensbereichen, ... erfasst.

Wie kann aus diesem Artikel zitiert werden?

Bitte geben sie folgende Quelle an:

Margareta, Harrer (2025): Montessori-Pädagogik als eine Form des "stillen Widerstands"?

Verfügbar unter: https://www.bel-montessori.at/blog/montessori-paedagogik_als_form_des_stillen_widerstands

Literatur:

  • Montessori, Maria (1977): Erziehung zum Menschen. Montessori-Pädagogik heute. München: Geist und Psyche Fischer.

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